Rheinische Strohzellstoff AG Rheindürkheim

1878: Gründung erste Strohzellstofffabrik Bloch & Offenheimer

1885: Übernahme durch Vereinigte Strohstoff-Fabriken AG, Dresden

1948: Verlegung des Unternehmenssitzes und Umbenennung in Rheinische Strohzellstoff AG Rheindürkheim

1963: Stilllegung und Liquidation

Vom Stroh zum Rohpapier

Luftbild der Strohzellstoff-Fabrik Rheindürkheim, Juni 1928[Bild: Südwestdeutsche Luft-verkehrs AG, Sammlung OAG Rheindürkheim]

Rheindürkheim war bis Anfang der 1960er Jahre Standort einer der ältesten und größten Strohzellstoff-Fabriken in Westdeutschland. Stroh ist als Rohstoff für die Pappenherstellung älter als der heute nahezu ausschließlich verwendete Holzzellstoff. Der Strohzellstoff deckte zeitweise fast den gesamten Bedarf in Deutschland ab. Wie bedeutend die Strohstoff AG in ihren Hochzeiten war, zeigt sich daran, dass sie 1917 der größte Steuerzahler des Kreises Worms war. Man erzeugte, nach eigener Aussage im Jahr 1905, „Prima hochgebleichten Strohstoff in feuchtem und trockenem Zustande.“[Anm. 1] Dieser wurde an die Papierfabriken geliefert.

Die Fabrikanlagen erstrecken sich vom Rhein, wo eine eigene Umschlagsanlage für die Anlieferung mit dem Schiff bestand, bis weit in das heutige Industriegebiet Worms Nord II, wo die Strohlager waren. Das Stroh wurde in großen Mengen per Schiff und per Bahn angeliefert und zu Zellstoff für Papier und Kartonagen verarbeitet. Wegen des wasserintensiven Verfahrens war der Standort am Rhein vorteilhaft. Über die eigenen Brunnen schöpfte man bis zu 24.000 Kubikmeter Wasser pro Tag. Zur besseren Haltbarkeit des Rohstoffes wurden mehrere große Scheunen errichtet, die zu großen Teilen heute noch sichtbar sind. Aufgrund des hohen Brandrisikos hatte die Fabrik eine eigene Werksfeuerwehr.

Ehemalige Produktionshalle der Strohstoff-Fabrik entlang der heutigen B9[Bild: Klaus Harthausen 2021]

Heute verbliebene Gebäude sind eine kleinere Produktionshalle entlang der B9 und mehrere Lagerscheunen in der Mittelrheinstraße. Am Rheinufer sind noch zwei Wasserentnahmestellen und Holzreste der Kaianlage zu sehen. Von den Werkssiedlungen sind die Arbeiterhäuser in der Dammstraße und im Frühlingsweg sowie zwei Beamtenhäuser entlang der Hüttenstraße und in der Coswig-Siedlung erhalten.

Geschichte

Der Franzose Marie Amédée Charles Mellier patentierte 1854 in Paris ein Verfahren, um Papier aus Getreidestroh herzustellen. Die maschinellen Herstellungsverfahren wurden bis 1882 in den folgenden Jahren in England und Deutschland entwickelt. Bereits 1878 wurde am Standort Rheindürkheim von einem Herrn Bloch die erste Papierfabrik gegründet. Er erwarb dafür die seit 1860 bestehende Kartoffelzuckerfabrik Eichrodt am Rheindürkheimer Fahrt und baute sie entsprechend um. Sie firmierte als Strohstoff-Fabrik Bloch & Offenheimer.

Aktie über 1000 Mark der Vereinigten Strohstoff-Fabriken, 1920[Bild: public domain]

Die Gründung der Vereinigten Strohstoff-Fabriken AG mit Sitz in Dresden erfolgte 1885. Durch Zusammenschlüsse vereinigte sie deutschlandweit acht Standorte. Die Aktiengesellschaft übernahm auch die Fabrik in Rheindürkheim, deren Einbringungswert 698.111 Goldmark betrug.[Anm. 2] Bald wurden die kleinen Standorte geschlossen und es verblieben die größeren Werke in Coswig, Dohna und Rheindürkheim. 1930 wurde das Werk Rheindürkheim modernisiert, ausgebaut und der Grundbesitz auf 35 ha erweitert.[Anm. 3] Das von der Wasserversorgung ungünstig gelegene Werk in Dohna wurde infolge der Weltwirtschaftskrise 1929 stillgelegt, 1932 in ein Verpackungspapierwerk umgebaut und 1937 verkauft.[Anm. 4] Aufgrund des Zweiten Weltkrieges wurde der Betrieb ab Ende 1940 zeitweise unterbrochen und schließlich komplett eingestellt. Erst Anfang 1948 konnte die Produktion wieder aufgenommen werden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg verlor das Unternehmen 1946 seine Fabriken in der sowjetischen Besatzungszone durch Enteignung. Folglich verlagerte die Aktiengesellschaft 1948 ihren Sitz nach Rheindürkheim und baute dort die Verwaltung auf. Man firmierte nun als „Rheinische Strohzellstoff AG Rheindürkheim“ (RSZ), war eine der größten Strohzellstoff-Fabriken Westdeutschlands und versorgte die Papierindustrie mit Rohpapier.

Zu einer Blütezeit kam es dann in den 50er Jahren. 1950 wurden 20.000 Tonnen Zellstoff produziert, 1953 sogar 25.550 Tonnen. Aufgrund einer ungewöhnlich schlechten Heuernte 1962 trat europaweit eine Verknappung von Heu und Stroh ein, sodass der Rohstoff nicht mehr in ausreichenden Mengen und zu wirtschaftlichen Preisen zu beschaffen war. Nachdem sich auch 1963 der Strohpreis nicht mehr normalisierte, zog sich die Papier- und Kartonherstellung in Deutschland vom Rohstoff Stroh zurück. Der Betrieb wurde stillgelegt, die AG am 29.10.1963 liquidiert. 380 Arbeitnehmer:innen verloren ihre Beschäftigung. Nach der Abwicklung wurden die meisten Gebäude 1967 abgerissen bzw. die Reste 1971 gesprengt.

Umfangreicher Werkssiedlungsbau

Um Beschäftige an das Unternehmen zu binden, begann man schon 1913 in der Dammstraße Werkshäuser zu bauen. Die ersten wurden als Reihenhäuser mit hinten anliegendem Schuppen und Klosett gebaut. In der Hüttenstraße wurden zwei Beamtenwohnhäuser als großzügige Doppelhäuser mit Garten errichtet. In den 1950er Jahren kamen Geschosswohnungen in der Dammstraße und am Frühlingsweg hinzu. Die Belegschaft war inzwischen auf 400 Beschäftige angewachsen. Die Geschosswohnungen hatten eine Grundfläche von mindestens 65 Quadratmeter und wurden für 30 bis 40 D-Mark vermietet. Wer lieber selbst bauen wollte, erhielt ein zinsloses Baudarlehen.[Anm. 5] Die Betreuung erfolgte durch die eigens mit der Kommune zusammen gegründete Wohnungsbau GmbH Osthofen-Rheindürkheim. Zuletzt entstand 1958 die „Coswig-Siedlung“, deren Name bis heute auf den Ursprung der Vereinigten Strohstoff-Fabrik AG hinweist. Diese Einzelhaussiedlung wurde entlang einer Ringstraße mit 25 genormten, zweistöckigen Siedlungshäusern durch den Wormser Architekten Friedrich Seeger für die Wohnungsbau GmbH errichtet.

Eigene Werksbahn

Die Werkseisenbahn verschiebt Wagen im offenen Strohstofflager[Bild: Ursula Giesen, Sammlung OAG Rheindürkheim]

Obwohl die Bahnstrecke bis Rheindürkheim Rheinufer bereits 1897 gebaut wurde, bekam die Strohstoff-Fabrik einen eigenen Gleisanschluss ab dem Rheinkai wohl erst im Jahr 1905. Der Transport in das Werk selbst wurde bis dahin mit Pferdefuhrwerken ab Osthofen Bahnhof oder vom Rheinkai aus bewältigt. Dies waren 1902 rund 2.000 Güterwagen, vor dem Ersten Weltkrieg 4.500-5.000 Waggons jährlich. Die Werksgleise umfassten zeitweise insgesamt 8 Kilometer und verbanden nicht nur die Produktionsanlagen, sondern auch mehrere Scheunen und Strohlager westlich der heutigen B9. Die Werksgleise querten dazu an zwei Stellen die Straße.

Das Strohzellstoffwerk hatte zunächst eine, dann zwei eigene Dampfspeicherlokomotiven. Solche „feuerlosen“ Dampflokomotiven wurden früher vielfach in Werksverkehren eingesetzt, wo Dampflokomotiven wegen der Gefahr von Funkenflug nicht genutzt werden konnten. Dies war im Zellstoffwerk, wo leicht entzündliches Stroh in großen Mengen vorhanden war, besonders wichtig. Die Übergabe zwischen Reichsbahn, später Bundesbahn und Strohzellstoff erfolgte an der Anschlussgrenze in Höhe des Kohlekrans. Von dort aus zogen die Werksloks die Wagen ins Werk.

Klaus Harthausen, OAG Rheindürkheim, 16.03.2022

Anmerkungen:

  1. Åkesson-Aivirein, Lennart (Hrsg.): Lexikon der Papier-Industrie. Deutsch – Englisch - Französisch. Ein Fachwörterbuch für den Bau, Betrieb, Handel und die Korrespondenz der Papier-, Papierstoff- und Pappenfabriken. 2. Aufl., Zürich 1905, S. 27. Zurück
  2. RSZ-Mitteilungen Nr. 1, Mai 1954. Zurück
  3. Vereinigte Strohstoff-Fabriken AG: Geschäftsbericht für das Jahr 1929. Zurück
  4. Vereinigte Strohstoff-Fabriken AG: Geschäftsbericht des Jahres 1937. Zurück
  5. RSZ-Mitteilungen Nr. 4, August 1955. Zurück