Kammgarnspinnerei AG Kaiserslautern
1857: Gründung des Unternehmens
1982: Ende der Produktion
Im September 1857 gründeten Franz Flamin Meuth und Jean Schoen die Kammgarnspinnerei AG Kaiserslautern (KGSK).[Anm. 1] Vor seinem unternehmerischen Engagement hatte der studierte Jurist Meuth eine Beamtenlaufbahn eingeschlagen, die 1842 in der Ernennung zum Direktor des Pfälzischen Zentralgefängnisses in Kaiserslautern kulminierte. In dieser Funktion sammelte er erste unternehmerische Erfahrungen, da dem Gefängnis eine Tuchmanufaktur angegliedert war.[Anm. 2] Sein Geschäftspartner Schoen war Textilingenieur und hatte bereits als Direktor bei verschiedenen Spinnereien in Europa gearbeitet. Diese Funktion bekleidete er auch im neu gegründeten Unternehmen.[Anm. 3] Das Startkapital der Aktiengesellschaft betrug 200.000 Gulden und die Aktien wurden zu je 1.000 Gulden ausgegeben. Neben Franz Flamin Meuth und Jean Schoen erwarben hauptsächlich Bürger:innen aus der Region die Aktien des Unternehmens. Unter den Aktionär:innen war auch Frederike Dingler, Witwe des Maschinenfabrikanten aus Zweibrücken. Das Unternehmen produzierte durch das Reinigen, Kämmen und Spinnen von Schafswolle hochwertiges Garn, das hauptsächlich in Deutschland, aber auch nach Russland und Österreich-Ungarn verkauft wurde.[Anm. 4]
Die Kammgarnspinnerei entwickelte sich nach der Gründung schnell zu einem der größten Industriebetriebe der Stadt. Das Betriebsgelände auf dem Areal der ehemaligen Bockingschen Mühle im Westen Kaiserslauterns wurde bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges stetig erweitert; 1883 erfolgte der Anschluss an das Schienennetz.[Anm. 5] Auch die Belegschaft vergrößerte sich. Während ein Jahr nach der Gründung 91 Beschäftigte für das Unternehmen tätig waren, arbeiteten 1874 bereits 692 Personen und 1884 965 Personen für die Kammgarnspinnerei. Darunter waren viele Fachkräfte aus dem Elsass, die Jean Schoen angeworben hatte. Das rasante Wachstum lässt sich darüber hinaus an zahlreichen Kapitalerhöhungen ablesen, welche die finanziellen Mittel der AG bis 1868 auf 920.000 Gulden ansteigen ließen.[Anm. 6] Seit der Gründung verfügte das Unternehmen über eine Kranken- und Unterstützungskasse.[Anm. 7] Später kamen eine betriebliche Altersvorsorge, ein Kindergarten sowie Werkswohnungen im neu entstandenen Stadtviertel Kotten hinzu.[Anm. 8]
Nach dem Tod Jean Schoens im Jahr 1887 wurden Rudolf Wilkens und Schoens Sohn Hans als neue Direktoren bestimmt. Ersterer wurde nach einiger Zeit von Jacob Leonhard abgelöst. Um 1900 produzierten 1.750 Mitarbeiter:innen täglich 7.000 Kilogramm Garn. In den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts wurde das Wachstum des Unternehmens erstmals durch Wollknappheit und rückläufiger Nachfrage geschwächt.[Anm. 9] Der Erste Weltkrieg stellte schließlich eine Zäsur für die Unternehmensgeschichte dar. Wolle konnte aufgrund der Kriegssituation nicht mehr importiert werden und viele Arbeitskräfte wurden zum Militärdienst eingezogen. So produzierte man während des Krieges Granaten und später Garn aus Papierfasern.[Anm. 10]
In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg hatte das Unternehmen mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Eine der Reaktionen darauf war die Bildung einer Interessengemeinschaft für den gemeinsamen Einkauf von Wolle mit der Norddeutschen Wollkämmerei und Kammgarnspinnerei in Bremen 1922. Im Rahmen der Kooperation wurde u.a. der gegenseitige Austausch von Aktien beschlossen.[Anm. 11] Während des Ruhrkampfes und der dramatischen Geldentwertung, die 1923 ihren Höhepunkt erreichte, stand der Betrieb von März bis November des Jahres still.[Anm. 12] Es folgte eine Phase relativer wirtschaftlicher Entspannung, die mit der Weltwirtschaftskrise 1929 endete. Diese führte zum Konkurs der Norddeutschen Wollkämmerei. Die Aktien des Partnerunternehmens waren wertlos geworden; folglich weist der Geschäftsbericht für das Jahr 1930 einen Verlust von 5,6 Millionen Reichsmark aus.[Anm. 13] Allerdings konnte sich die Kammgarnspinnerei von diesem Rückschlag durch Einsparungen erholen. Im Jahr 1931 erzielte das Unternehmen wieder einen bescheidenen Gewinn von 21.500 Reichsmark, der 1934 auf 345.000 Reichsmark anstieg.[Anm. 14] Nach der Sanierung lag die Aktienmehrheit bis 1935 bei der Deutschen Bank, anschließend ging sie an den Textilkonzern J. F. Adolff AG aus dem württembergischen Backnang über.[Anm. 15]
Während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft erzielte das Unternehmen trotz eines Großbrandes auf dem Werksgelände 1936 wirtschaftliche Erfolge, was auch an Aufträgen der Wehrmacht lag. Im Jahr 1939 erreichte die Zahl an Beschäftigten mit 2.100 Arbeiter:innen ihren Höhepunkt.[Anm. 16] Während des Zweiten Weltkrieges mangelte es der Kammgarnspinnerei an Rohstoffen und Arbeitskräften, weswegen die Produktion wieder auf Papiergarn umgestellt wurde. Zeitweise stammten wohl 25% der Gesamtproduktion an Papiergarn aus der KGSK. Außerdem stellte man Kinderschuhe und Wehrmachtsuniformen her.[Anm. 17] Zur Kompensation der eingezogenen Mitarbeiter setzte die Kammgarnspinnerei Zwangsarbeiter:innen ein.[Anm. 18] Im September 1944 wurde das Werk bei einem Luftangriff auf die Stadt größtenteils zerstört. Als eines der wenigen intakt gebliebenen Gebäude versorgte das Kraftwerk bis nach dem Kriegsende Teile der Stadt mit Strom.[Anm. 19]
Nach dem Ende des Krieges lief die Produktion schleppend wieder an. In den 1950er Jahren erfolgte dann durch den Erwerb neuer Produktionsmittel eine umfangreiche Modernisierung der Kammgarnspinnerei. Um den gestiegenen Bedarf an Kohle zu decken, kaufte das Unternehmen Anfang der 1950er Jahre die Grube „Maria“ in Steinbach am Glan. 1956 arbeiteten 1.300 Beschäftigte für die Kammgarnspinnerei.[Anm. 20] Das Garn wurde in den 1960er Jahren hauptsächlich nach Skandinavien exportiert.[Anm. 21]
Mitte der 1970er Jahre begann der wirtschaftliche Niedergang des Unternehmens, da die Kammgarnspinnerei aufgrund der sinkenden Garnpreise auf dem Weltmarkt nicht mehr konkurrenzfähig produzieren konnte. 1981 meldete die KGSK Konkurs an, 1982 wurde die Produktion schließlich eingestellt und die verbleibenden 530 Mitarbeiter:innen wurden entlassen.[Anm. 22]
Seit 1983 befindet sich auf Teilen des Areals ein Campus der Fachhochschule Kaiserslautern. Fünf Jahre später erfolgte die Eröffnung des Kulturzentrums, das seitdem als Veranstaltungsort für Konzerte und Kabarett genutzt wird und mittlerweile von über 2,5 Millionen Zuschauer:innen besucht wurde.[Anm. 23]
Anmerkungen:
- Sachisthal, Kraft: Einhundert Jahre Kammgarnspinnerei Kaiserslautern. 1857-1957. Mainz [1957], S. 25. Zurück
- Friedel, Heinz: Die Entwicklung der Kaiserslauterer Industrie. Eine Wirtschaftsgeschichte, in: Christmann, Ernst/Friedel, Heinz (Hrsg.): Kaiserslautern einst und jetzt. Beiträge zur Geschichte der Großstadt Kaiserslautern. Von der Vor- und Frühgeschichte zu den heutigen Flur- und Straßennamen. Kaiserslautern 1970 (=Schriften zur Geschichte von Stadt und Landkreis Kaiserslautern, Bd. 12), S. 73-327, hier S. 137f; Meuth, Franz Flamin (Indexeintrag), in: Deutsche Biographie. URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd13357704X.html (09.08.2022): Meuth wurde 1800 in Kaiserslautern geboren und starb 1884 dort. Zurück
- Sachisthal, Kammgarnspinnerei, S. 16f. Zurück
- Dingler, Christian Wilhelm Nikolaus, in: Deutsche Biographie. URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd134029690.html (09.08.2022); Friedel, Wirtschaftsgeschichte, S. 195 u. 199. Zurück
- Custodis, Paul-Georg: Vom Backen, Brauen, Keltern und Gerben. Zeugnisse der Herstellung von Nahrungs- und Genussmitteln sowie Bekleidung in Rheinland-Pfalz. Mainz [2017], S. 150. Zurück
- Sachisthal, Kammgarnspinnerei, S. 29f. Zurück
- Wiehn, Erhard Roy: Kaiserslautern. Leben in einer pfälzischen Stadt. Neustadt an der Weinstraße 1982, S. 666. Zurück
- Friedel, Wirtschaftsgeschichte, S. 199. Zurück
- Sachisthal, Kammgarnspinnerei, S. 34-38 u. Anhang S. II. Zurück
- Friedel, Wirtschaftsgeschichte, S. 199. Zurück
- Sachisthal, Kammgarnspinnerei, S. 40; Frankfurter Zeitung 29. Juli 1922. Verfügbar im Pressearchiv des ZBW - Leibniz-Informationszentrums Wirtschaft. URL: http://purl.org/pressemappe20/folder/co/013969/00008 (10.08.2022). Zurück
- Deutsche Allgemeine Zeitung, 16. Juli 1924. Verfügbar im Pressearchiv des ZBW - Leibniz-Informationszentrums Wirtschaft. URL: http://purl.org/pressemappe20/folder/co/013969/00011 (10.08.2022). Zurück
- Kammgarnspinnerei AG Kaiserslautern (Hrsg.): Geschäfts-Bericht über das Betriebsjahr 1930. Verfügbar im Pressearchiv des ZBW - Leibniz-Informationszentrums Wirtschaft. URL: http://purl.org/pressemappe20/folder/co/013969/00001 (09.08.2022). Zurück
- Kammgarnspinnerei AG Kaiserslautern (Hrsg.): Geschäfts-Bericht über das Betriebsjahr 1931. Verfügbar im Pressearchiv des ZBW - Leibniz-Informationszentrums Wirtschaft. URL: http://purl.org/pressemappe20/folder/co/013969/00002 (10.08.2022); Kammgarnspinnerei AG Kaiserslautern (Hrsg.): Geschäfts-Bericht über das Betriebsjahr 1934. Verfügbar im Pressearchiv des ZBW - Leibniz-Informationszentrums Wirtschaft. URL: http://purl.org/pressemappe20/folder/co/013969/00005 (10.08.2022). Zurück
- Friedel, Wirtschaftsgeschichte, S. 199. Zurück
- Custodis, Bekleidung, S. 151; Stein, Luise: Grenzlandschicksale. Unternehmen evakuieren in Deutschland und Frankreich, 1939/1940. Berlin/Boston 2018 (=Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Bd. 31), S. 175. Zurück
- Sachisthal, Kammgarnspinnerei, S. 48. Zurück
- Burkhart, Ulrich/Decker, Christian: Zwangsarbeit in der Pfalz 1939 bis 1945. Internierung – Einsatzorte – Repression, in: Institut für pfälzische Geschichte und Volkskunde. URL: https://www.pfalzgeschichte.de/de/forschung/laufende-projekte/zwangsarbeit-pfalz/ (15.08.2022). Zurück
- Friedel, Wirtschaftsgeschichte, S. 204. Zurück
- Sachisthal, Kammgarnspinnerei, S. 50-57. Zurück
- Friedel, Wirtschaftsgeschichte, S. 204. Zurück
- Aulenbacher, Mario: Kammgarn. Geschichte trifft Zukunft, in: LUTRA 14 (2018), S. 3-8, hier S. 5; Kasprick, Sonja: Ehemalige Kammgarnspinnerei in Kaiserslautern, in: WestpfalzWiki. URL: https://www.westpfalz.wiki/wiki/ehemalige-kammgarnspinnerei-in-kaiserslautern-2/ (10.08.2022). Zurück
- Aulenbacher, Kammgarn, S. 7. Zurück